Ein Sonnenstrahl auf dem Fussboden weckt für einen Augenblick Vorstellungen von einem schönen Leben. Dann zuckt eine Linie über graue Wände. Sie führt den Blick in verlassene Räume, die blass im Winterlicht dämmern. Ein anderes Linienwesen taucht auf, springt über die Tristesse des unsanierten Altbaus, als wüsste es um verborgene Schätze, die noch in den verlassenen Räumen zu finden sind. Doch die Linienwesen sind keine verlässlichen Führer, sie kommen und gehen, nicht mehr als zufällige Kratzer auf dem Filmträger, die nur durch die Motorik der Projektionsmaschine in Bewegung geraten sind. Sie sind ein Hinweis auf die Verrückung, die zwischen den verschiedenen Räumen der Installation stattfindet: den gefilmten Räumen, dem durch die Filmprojektion erzeugten Illusionsraum und dem begehbaren Raum, in dem die Installation aufgebaut ist.
Die Projektionsmaschine, mit der Rosa Barba Filmaufnahmen von verlassenen Altbauwohnungen in Budapest auf die Wand der Installation „Piratenräume“ wirft, ist umständlich. So umständlich, dass man sich fragt, wie die Bewegungen der Linienwesen sich verhalten zu den Spulen, Rollen, Filmbändern und den Lautsprechern, die gemeinsam die Apparatur der Installation bilden. Die Filmbänder heben und senken sich, die Musik wird manchmal unterbrochen und die Projektionslampe scheint stockend. Auch der Rhythmus, mit der die Projektionsmaschine den Linienwesen Bewegung mitteilt, ist kompliziert. Diese Komplikation löst sich bei weiterem Hinsehen scheinbar auf: Die Rhythmik des Wechsels von Licht und Schatten, von Ton und Stille, von gespannten und lockeren Filmstreifen steht in Beziehung zu einem unscheinbaren Element, auf das vielleicht alles zurückführbar ist. Es ist sinnlich nur über ein kleines Sichtfenster erfahrbar, in dem rote Dioden regelmässig Schriftbalken in Ziffern verwandeln. Das kleine Display, das konstant in Bewegung ist, dient als Hinweis darauf, dass die Rhythmik des Geschehens mit einem digitalen Steuerwerk in Verbindung stehen könnte, das vermutlich den Projektor taktet und den Linienwesen ihren Impuls mitteilt. Veranlasst also ein diskreter mathematischer Plan die Komplikationen? Dient die filmische Anordnung der Illustration der bekannten Aussage, dass digitale Computer auch den Film erobert haben und die Schätze der cineastischen Illusion längst von Programmieren geborgen wurden? Warum wendet Rosa Barba Sorgfalt und technisches Know-How auf, um die Materialität von Projektion und Filmtransport auszustellen, nicht allein in dieser Installation, sondern in allen ihren Arbeiten?
Die Spannung der Piratenräume hat eine Quelle in einem historischen Konflikt über die Bedeutung von Raum und Zahl. Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts hat sich der Raum der Mathematik von der visuellen Anschauung verabschiedet [1]. Der Mathematiker Felix Klein überführt in seinem Erlanger Programm von 1872 die widerstreitenden Raumlehren der Mathematik mit Hilfe der sogenannten Gruppentheorie in eine Zahlenlehre. Das ist strukturell vergleichbar mit der Programmierung filmischer Räume durch den Computer. Insofern ist das digitale Fenster in Barbas Piratenräumen ein Hinweis auf ein Spannungsfeld, das sich innermathematisch entwickelte und das später zum Konzept der Turing-Maschine und des digitalen Rechners führte. Barbas Raumkunst positioniert sich zwischen der modernen Tendenz zur Beherrschung der Räume durch die Zahl (Abstraktion) und dem Bedarf an technisch gestützter Audiovision, denn während sich die Mathematik von sinnlich vorstellbaren Geometrien entfernte, wurden in einer dazu gegenläufigen Tendenz Kulturtechniken wie Schallplatte, Kino und Schreibmaschine entwickelt, die dem wachsenden audiovisuellen Bedarf der Industriegesellschaft entsprachen. So spannen Barbas Arbeiten auch einen Reflexionsbogen zwischen mathematischen Raumprojektionen und den Kulturtechniken der Raumgestaltung.
Foucault erwähnt in seinem Text „Andere Räume“ das Kino nur am Rande [2]. Seine Aufmerksamkeit gilt anderen Lokalitäten, in denen Raumordnungen verändert werden, Spiegeln, Gärten, Friedhöfen, Gefängnissen und Archiven. Er spricht am Schluss des Textes von Schiffen als „schwankenden Raumstücken“. Zwar schwankt der Fussboden in Barbas Installation nicht, wohl aber der Blick und die Aufmerksamkeit. Der Wahrnehmungsraum ist nicht geordnet, sondern kippt von hell nach dunkel oder er wird bedrohlich eng, wenn sich die Filmbänder von der Decke hinunter auf den Betrachter senken. Zugleich wird die zeitliche Wahrnehmung zerstückelt, wenn die Musik einsetzt oder das Licht aussetzt und eine kontinuierliche Wahrnehmung nicht möglich ist. Besonders irritierend ist dabei der Blick auf die digitalen Ziffern. Zwar verändern sie sich regelmässig und suggerieren eine verlässliche Taktung der steuernden Maschine, aber der Betrachter kann sie nicht eindeutig den Aktionen des Filmprojektors zuordnen, den sie vorgeben zu steuern. Das zeigt, dass die Piratenräume reich an Plätzen sind, auf denen fragile raumzeitliche Ordnungen umgeschlagen werden. In diesem Sinn erweitert Barba die Raumlehre Foucaults um den kinematographischen Aspekt. Sie schafft Umschlagplätze für raumzeitliche Ordnungen. Die Linienwesen weisen den Weg dorthin. Sie navigieren zwischen den Diskrepanzen und sind flüchtige Botschafter medialer Möglichkeiten.
Fotos: Courtesy by Rosa Barba
Der Text “Piratenräume” ist dem Band BARBA, ROSA. off sites / sets entnommen.
2 Tle. Katalog. Düsseldorf 2003. Text von Siegfried Zielinski, Nils Röller u.a.Faltplan im Format 100 x 140 cm Gefaltet auf 16,6 x 25 cm mit Texten von Siegfried Zielinski, Iris Kadel, Jose-Carlo Mariategui & Nils Röller auf der Rückseite / 88 S. durchgehend mit meist farb. Abb.,brosch. in Schuber – Text in dt. & engl. Sprache.
Der aufwendig und schön gestaltete Ausstellungskatalog gliedert sich in zwei Teile: “Sets”, ein schlankes Buch, das Barbas filmtechnische Installationen dokumentiert und “Off Sites” – im Format ausgeklappt auf der einen Seite Text-Karte, auf der anderen Seite Poster.
Zur bestehenden Publikation erscheint neu eine Edition: Die aufklappbare Leuchtbox mit Stromadapter, in Format und Handhabung gleich einer herkömmlichen Videokassette, birgt ein durchscheinendes Print aus dem Film “Spaltenfelder” (2003). Vorzugsausgabe: Auflage: 12 Exemplare + 3 Exemplare a.p. Kassette im Format 19,5 x 12,5 x 3 cm in 1/1 weiß glatt Efalin mit Einsatz für Leuchtdioden mit Adapter und numerietm und signiertem Videoprint in Wechselrahmen. 1115314 EUR 180.00
The beautiful and lavish exhibition catalogue is made up of two parts: Sets, a slim book that documents Barbas filmic installations, and Off Sites that folds out to text on the one side and a poster on the other. To this extant publication comes an added edition: a foldout lightbox with power adaptor, in format and operation comparable to a standard video cassette, that contains a transparent print from the film Spaltenfelder (2003).