Ismaeles Karten:Daniel Pflumm

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Ismaels Karten ist eine Sammlung von Texten Nils Röllers zu gegenwärtigen künstlerischen Produktionen. Zusammen mit Ahabs Steuer und Kants Kompass thematisieren diese Texte Beziehungen zwischen Zeit, Raum und individuellen künstlerischen Produktionen

Das Verhältnis von Computer und Film ist derzeit so dynamisch, daß allgemeine Aussagen nicht möglich sind. Deshalb soll anhand eines Beispiels, und zwar der Arbeiten von Daniel Pflumm, die Problematik der künstlerischen Arbeit am Computer verdeutlicht werden, die Aspekte der Malerei und des Films betrifft.

Daniel Pflumm studierte an der Berliner Hochschule der Künste Malerei und stellte zunächst großformatige Gemälde her. Dies hat er aufgegeben, da die Ausdünstungen von Lacken und Nitroverdünnung nicht mehr akzeptabel waren. Zahlreiche Skizzenbücher eng gefüllt mit Bleistiftzeichungen stammen aus dieser Zeit. Sie stellen vor allem Firmenlogos und abstrakte Zeichen aus der Konsumwelt dar, so als habe Pflumm in Fortführung naturwissenschaftlicher Datensammlungen an einer Inventarisierung der Warenwelt gearbeitet. Während seiner Studienzeit (1992-96) eröffnete Pflumm in einem leerstehenden Ladenlokal nahe der ehemaligen Botschaft der CSSR in Ostberlin das Elektro. Elektro war ein Club, ein Treffpunkt, Projektionsort für Videoarbeiten und wurde zum Markenzeichen. Dem Schriftzug des Brand-Name haftete der Zerfallshauch der ostdeutschen Wirtschaft an, den Buchstaben „E“ und „K“ fehlten Balken und sie verwiesen damit auf das ehemalige Fachhandelsgeschäft für Elektrogeräte, in dessen Räumen Pflumms Elektro sich etablierte. Der Schriftzug an der Außenwand des Geschäfts, dessen Buchstaben „e“ und „k“ abgeplatzt war, wirkte: T-Shirts mit diesen Verweisen auf ökonomische Macht wurden auf den Love-Parades hauteng getragen und man mag nicht entscheiden, ob Ironie oder Affirmation das Motiv war, oder einfach nur Elektro.

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Barbara Ellmerer: Waldstücke

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Barbara Ellmerer, Amanita, 2007, 90×130 cm, Öl/Bw

Aktuelle Ausstellung

“Ihre Ausstellungen bewegen im buchstäblichen Sinn. Barbara Ellmerer operiert in ihren Arbeiten mit unterschiedlichen Tiefenwirkungen und Kontrastschärfen und zwingt so den Betrachter, den Blick vor jedem Bild neu zu fokussieren. Schemenhaft zarte Frauenbildnisse, die an der Grenze der Sichtbarkeit oszillieren und im hellen Bildgrund zu verschwinden scheinen, kombiniert sie mit überaus üppigen Waldstücken, die dem Betrachter in ihrer saft- und kraftstrotzenden Farbfülle geradezu entgegendrängen. Auf diesen Waldstücken, welche die älteren Blumenstücke ablösen, finden sich Pilze, Insekten, Pflanzenteile wie Farnwedel oder Eibenfrüchte aber auch Blüten und Knospen. Sinnlich muten die fleischigen Blätter und Früchte an, die leuchtendroten Fliegenpilze, deren dicke, weisse Tupfen von dem vitalen Vergnügen künden, das für Barbara Ellmerer im künstlerischen Schaffensprozess liegt… ” Aus: Alice Henkes. In: Kunstbulletin-online

Yves Netzhammer: Die Subjektivierung der Wiederholung Projekt B

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Eine Installation in der Karlskirche Kassel

Subversion bedeutet hier Umkehr des Fühlens, Denkens und Handelns im Sinn einer Ästhetik der Migration. Sie mutet den Betrachtern zu, sich in bodenlosen, entwurzelten Bildwelten zu sehen. Diese Bildwelten entfalten sich mit Zeichen, die keine Heimat in einer verlässlichen Ordnung finden. Sie finden keine Bleibe in einer Erzählung und keine Ruhe im Einklang mit der Welt. Es sind Zeichen, die die Wanderschaft von Bedeutung und Sinnlosigkeit auf sich nehmen und die Wahrnehmung von Singularität und Totalität umkehren.

Auf den ersten Blick erscheint die Installation als Spiegelkabinett, in dem optisch Räume in einem abgetrennten Raum vervielfältigt werden. Die Bildarmut und strenge Linienführung der hugenottischen Karlskirche thematisiert Netzhammer damit diskret und zugleich intensiv. So lässt er zwar die Wände der Kirche unverändert, konfrontiert sie aber mit dem besonderen Raum der Installation und der Soundkomposition von Bernd Schurer. Äusserlich ist die Installation ein bilderloser gebauter Keil, innerlich eine pulsierende Bildwelt.

Tritt man in die Installation, dann vermehren sich die Räume und damit auch die Ansichten der Betrachter. Sie werden wiederholt auf den Seitenwänden gespiegelt und in neue Beziehungen zu Bildern des Künstlers gesetzt. Man kann sagen, dass die Betrachter der Ordnung der bewegten Spiegelbilder unterworfen werden, denn das Wort „Subjekt“ bedeutet ursprünglich: unter etwas geworfen zu sein. Die Spiegelbilder der Betrachter geraten so unter eine sich ändernde Gesellschaft mit Lebewesen und Dingen. Das sind Käfige, Delphine, Elefanten, Chamäleons, verstümmelte Körper, Krücken, Transporter, Panzer und Hütten … Die Dinge stehen in gelenkten Beziehungen und werden durch Berührungen von Gliedmassen, Instrumenten und Architekturen, durch Funktionen und ähnliche Bewegungsabläufe gesteuert.

Die Ähnlichkeit ihres langsamen Vordringens macht es zum Beispiel plausibel, dass Elefanten mit Panzern in einer Reihe marschieren. Die Form eines Rasierblatts legt nahe, dass ein Chamäleon zerschnitten wird und Blut verliert. Ein Gitternetz formt plausibel die Sprünge von Delphinen. Die Bewegungsabläufe haben sich in den Bildern von ihrem ursprünglichen Kontext befreit. Sie verknüpfen nun Dinge, Tiere und Menschen miteinander, ohne dass dies durch einen Bauplan der Natur, eine Geschichte oder einen allgemeinen Verstand reguliert wird. Der Künstler organisiert hier eine Migration der Relationen, die ihren gewohnten Zusammenhang verlassen haben.

In der „Subjektivierung der Wiederholung Projekt B“ projizieren drei Beamer bewegte Bilder auf die Spiegelwände. Manchmal erzittern diese Spiegel. Sie werden subtil in Bewegung versetzt durch den Sound der Installation. Die Lautsprecher sind so in die Wände eingelassen, dass die Spiegel in unterschiedlichen Graden vibrieren können. Zuweilen ist die Vibration unmerklich, dann aber geraten die Spiegel wieder kräftig in Schwingung. Sie ähneln manchmal glatten Wasseroberflächen, die durch fallende Blätter erregt werden, dann aber immer wieder auch unruhigen Wellenformationen, so als hätte etwas eine Oberfläche grob durchstossen.

Sanfte und abrupte Berührungen zwischen seinen Figuren und den Abbildern der Welt führt Netzhammer vor und knüpft damit an eine Frage an, die er in seinem reichen Werk, in Zeichnungen, Prints, Wandbildern, Filmen und Installationen, beharrlich stellt. Es ist die Frage, wie Berührung möglich ist. Netzhammer entwickelt sie bildnerisch zu einer prinzipiellen Frage nach der Möglichkeit von Beziehung überhaupt. Der Künstler gibt sich nicht damit zufrieden, etwas zu erzählen oder schlicht Unstimmigkeiten zwischen Mensch, Tier, Ding und Welt aufzuweisen, sondern er konzentriert sich auf die jeweilig einzelne Oberfläche, die sich zur Berührung anbietet. Das ist zum Beispiel der Beinstumpf eines Rollstuhlfahrers oder die Ränder eines Ahornblattes, die mit Kontinenten in Verbindung geraten, oder Schatten, die helle Räume streifen.

Der Künstler bezeichnet die Kasseler Installation als Projekt B. Projekt A wird zeitgleich im Schweizer Pavillon während der 52. Internationalen Kunstbiennale Venedig vom 10. Juni bis 21. November 2007 gezeigt. Die Kasseler Ausstellung im Begleitprogramm zur documenta 12 besticht durch die Auseinandersetzung mit dem spezifischen Kirchenraum. Er wird architektonisch und akustisch reflektiert als Problem der Integration. Netzhammer strebt keine Vermittlung zwischen Kunst und Kirchenraum an. Das ist nicht als schlichte Absetzungsbewegung zu deuten, sondern als klare Stellungnahme zum Verhältnis von bestehender Struktur zu einem neuen Teil, das sich wie die Installation als Fremdkörper in der Kirche einnistet.

Ein Migrant wie Netzhammer kann seine Zeichen nicht als Interpretationen oder Bebilderungen von etwas anbieten. Es widerspricht der Poetik und Ästhetik der Migranten, Bedeutungen zu behausen und sich in Sinngebungen zu verwurzeln. So sprechen Jacques Derrida und Massimo Cacciari von der Migration der Zeichen und so formuliert es der philosophische Dichter der Migration, Edmond Jabès, im „Kleinen unverdächtigen Buch der Subversion“. Nicht nur, dass Netzhammer keine Integration anstrebt, er weicht auch dem Skandalon der Wanderschaft nicht aus. Sie ist unbequem. Deshalb drängt sich das Kunstwerk immer wieder akustisch auf. Der Sound im Innenraum des Keils dringt in den Kirchenraum hinein. Er macht sich jenseits liturgischer Regelmässigkeit dann und wann massiv bemerkbar und das ist nicht vorhersehbar.

Die Installation spielt wiederholt auf die Hoffnung an, dass eine Ordnung in der Welt sein könnte, die Berührungen und Beziehungen verständlich macht. Denn zuweilen scheinen sich die Spiegelbilder der Betrachter mit den Schöpfungen Netzhammers stimmig zu spiegeln. Das ist immer wieder möglich, aber auch immer wieder löst sich der Eindruck von Stimmigkeit auf und plötzlich fallen die Gegenstände mit fragmentarisch scharfen Umrissen auf die Betrachter nieder. Hier wird die Katastrophe, in der das Verhältnis zwischen Subjekt und Welt zusammenbricht, erfahrbar als Chance zur Auseinandersetzung und eventuell auch als Bedingung für mögliche Beziehungen.

Weitere Informationen:

Galerie Anita Beckers

Vision – Audition

Siehe auch: Journal für Kunst, Sex und Mathematik

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Ismaels Karten: Riechers

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Ismaels Karten ist eine Sammlung von Texten Nils Röllers zu gegenwärtigen künstlerischen Produktionen. Zusammen mit Ahabs Steuer und Kants Kompass thematisieren diese Texte Beziehungen zwischen Zeit, Raum und individuellen künstlerischen Produktionen.

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Achim Riechers

Mannequins im „Fachwerk der Kosmetik“, Eigenproduktionen aus den Schattenwirtschaften russischer Datschen im „Wolgograd Photo Index“ und Lagerbestände aus Kölner Geschäften in „Afroshop Input“, das sind drei divergierende Sujets aus den Werkgruppen des Fotografen Achim Riechers. Die Vielfalt der Sujets wird durch eine direkte und zugleich empfindliche Neugier für die Welt vor der Kamera getragen. Sie zeichnet Riechers Werk künstlerisch aus. In theoretischer Sicht begreife ich das fotografische Schaffen als eine Aneignung und Erweiterung historischer schriftstellerischer Vorbilder im Medienwechsel vom Text zur Fotografie. Als literarische Vorbilder zu nennen sind die Reisebeschreibungen Cooks, Forsters und Humboldts im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert und die ethnopoetischen Forschungen Hubert Fichtes im zwanzigsten Jahrhundert. Während bei den Erstgenannten die empirische Erfassung der Lebewesen der neuen Welten im Vordergrund steht, werden die Seelenlandschaften der Einwohner der Neuen Welt, ihre Riten und deren Symbole von Hubert Fichte in den Vordergrund gestellt und kontrastiv zu Erfahrungen in der ersten Welt montiert. Riechers macht sich diese Tradition als ein Fotograf zu eigen, der die Veränderungen der Bewusstseinsformen im Zeitalter des globalen Turbokapitalismus, in dem sich alte und neue Welten diskrepant durchdringen, erforscht. Er protokolliert in den Indizes visuell die hybride Zeichenflora, wie sie sich zum Beispiel zwischen den Indizien des Putinismus und einer Ikone aus der amerikanischen Traumfabrik auf den Märkten von Wolgograd bildet. Di Caprios Konterfeit taucht auf einem verschlossenen Marktstand auf, den Menschen unterhalten, die wochentags in selbstgebauten Hütten übernachten, um die Ernte in den Vorstadtgebieten, mit der sie sich ein zusätzliches Auskommen erwirtschaften, vor Plünderern zu bewachen. Das wirtschaftliche Agieren in den Nischen der Datschenkultur fängt Riechers mit dem Blick für global bedingte Konstraste ein, und zwar im Kontrast mit dem Portrait eines Schauspielers aus einer Welt, in der Stars Gagen in der Höhe der Bruttoinlandsprodukte kleinerer Staaten erhalten. Die Widersprüche der Globalisierung schaffen Konstellationen zwischen Menschen und ihren Zeichen, die einen so unübersichtlichen Dschungel bilden, dass Anleihen an naturwissenschaftlichen Praktiken notwendig sind. Riechers folgt deren methodischer Einsicht, dass die empirische Aufnahme und Verzeichnung des Neuen der theoretischen Verallgemeinerung und Systematik vorangehen muss. Deshalb legt der Künstler Indizes an. Er hütet sich davor, erzählend oder analytisch Zusammenhänge zu konstruieren, solange die empirische Aufgabe reich an neuen Formen und Widersprüchen ist, die erst einmal aufgenommen werden müssen.

Riechers künstlerische Einstellung hat besondere Stärken für die Lehre und Praxis in Studiengängen der Neuen Medien oder des Kommunikationsdesign, die künstlerischen und gestalterischen Ausdruck als Faktoren in einem gesellschaftlichen Prozess verstehen und vermitteln. Der Fotograf Riechers widmet sich den Menschen und den Dingen vor der Kamera, er benutzt in seinen Recherchen das Fremde nicht, um sein Selbst zu stilisieren. Das ist ein zentraler Unterschied zu der ethnopoetischen Konstruktion des Schriftstellers Hubert Fichte, der sich als Spiegel der Welt inszeniert. Riechers kann auf selbstbezügliche Konstruktionen verzichten. Er lenkt seine Energien auf die Welt vor der Kamera, indem er die Kommunikation mit den Menschen, ihren Objekten und Produktionen vor der Linse als Projekt versteht. In den Gegenden, die Riechers forschend durchstreift, sammelt er nicht nur, nimmt nicht nur Bilder von den anderen, sondern organisiert Workshops und Ausstellungen mit den Arbeiten der Menschen. Bei ihm erhalten lokale Zeichenproduzenten Unterrichtung und Aufmerksamkeit.

Riechers künstlerische Recherche und seine pädagogische Erfahrung bekennen sich damit konsequent zur Ethik des Dialogs. Das qualifiziert Riechers künstlerisch und pädagogisch besonders. Er begreift die Fotografie als Möglichkeit, die erlernten und studierten Werte des Subjektiven intersubjektiv-dialogisch im Sinne Vilém Flussers zu erweitern und zu vermitteln. Der Theoretiker der Neuen Medien Vilém Flusser räumte der Fotografie die Funktion der Pioniertechnik im gesamtgesellschaftlichen Prozess der Digitalisierung ein. Im Umbruch sind für ihn Vorstellungen von Kunst und Wissenschaft, davon ist auch die Relation von schöpferischen Subjekt und seinem Objekt betroffen. Das Werk von Achim Riechers verleiht Flusser Plausibilität und lässt die Folgen von dessen Thesen für die Praxis der Lehre und künstlerischen Forschung facettenreich erscheinen. Riechers ist ein Fotograf, dem es vorrangig um die Kommunikation der von ihm beobachteten schöpferischen Geste in sozialen Interaktionen zwischen Mensch, Technik und Wirtschaft geht.

Nils Röller

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Siehe auch: Tuxamoon

Ismaels Karten: Cabot

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Ismaels Karten ist eine Sammlung von Texten Nils Röllers über gegenwärtige künstlerische Produktionen. Zusammen mit Ahabs Steuer und Kants Kompass thematisieren diese Texte Beziehungen zwischen Zeit, Raum und individuellen künstlerischen Produktionen.

Roberto Cabot – Zeitperlen

„Kunst ist die Sprache der Empfindungen“, schreiben Deleuze und Guattari. Nach Ansicht der französischen Philosophen „geht diese Sprache über Farben, Worte oder Steine.“ Man möchte, wenn man Roberto Cabots Loops betrachtet, hinzufügen, dass die Sprache der Empfindungen auch über die tückenreichen Wege verläuft, die von technischen Medien gebahnt werden: Von digitalen Videokameras, computergestützten Schnittplätzen und internationalen Formatvorgaben, mit denen im Internet Daten verteilt werden. Cabot zieht mit ihrer Hilfe Perlen heran. Die technischen Vorgaben der neuen Medien nutzt der Maler Cabot wie ein Perlenzüchter, der in Muscheln Parasiten einschleust, um die sich Perlmutt dann kreisförmig schliessen kann. Bei Cabot bilden technische Bedingungen den Fremdkörper, der von einem „Empfindungsblock“ umschlossen wird.

Ein Empfindungsblock besteht aus Wahrnehmungen und Rührungen, aus Perzepten und Affekten. Der Künstler schafft sie und bewahrt damit das, was sonst flüchtig bleiben würde. Das verstehen die beiden Philosophen, mit denen Cabot auch persönlich verbunden war, nicht im Sinne einer Dokumentation oder Sicherung von Erlebnissen. Sie argumentieren für eine Kunst, die Flüchtigkeiten, die der Wahrnehmung sonst entgehen, dauerhaft verknüpft.

Das kann verstanden werden als Arbeit und Engagement für Wahrnehmungen und sinnliche Zustände jenseits von Seh- und Hörgewohnheiten und jenseits der Meinungen. Man möchte sich auch keine Meinung mehr über den Karneval erlauben, nachdem man Cabots kurze Sequenzen gesehen hat. Es genügt ihm nicht, etwas Spektakuläres einzufangen oder mit einem Detail auf etwas Bedeutsames hinzuweisen. Das würde ihn in eine Reihe mit den Meinungsmachern stellen, den Bildjournalisten, die Wahrnehmungen benutzen, um etwas Anderes darzustellen oder um auf irgendein Motiv hinzuweisen. Cabot konzentriert sich auf das, was sich dem Kameraauge darbietet, und er „durchkaut“ das solange, bis die Zeit karnevalesk zu rauschen beginnt.

Mit elektronischen Mitteln vollzieht er kauend und stammelnd die Bewegung, die Schriftsteller und Maler von Empfindungsblöcken auszeichnet. Wie ihnen fällt es Cabot schwer, das anzunehmen, was die Sprach- und Sehgewohnheiten nahe legen. Deshalb fügt er den Bildern nichts hinzu, sondern nimmt fort und kontrahiert. Auch fasst er die Aufnahmen nicht in irgendeinen Sinn stiftenden Rahmen ein. Das würde die Empfindung des Dargebotenen zerstören und die Farben und Formen dazu degradieren, bloss etwas zu dokumentieren.

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Was für das Auge gilt, gilt auch für das Ohr. Niobe hat die Originaltöne, die Cabot vor Ort aufgezeichnet hat, zu einem abstrakten Soundstück verdichtet. Die aufgenommenen Rhythmen dienen nicht mehr als soziales Metronom im massenhaften Taumel. Sie klingen vage und unzuverlässig dunkel. Dieser Vagheit korrespondiert die visuelle Desorientierung, die sich beim längeren Betrachten der Projektionen einstellt. Sie zeigen einander gegenläufige Farbflächen, die so die raumzeitlichen Bezugspunkte des Betrachters aufhaben. Je länger man die Aufeinanderfolge der roten, blauen und grünen Tänzerinnen betrachtet, desto weniger weiss man, was sich eigentlich vor dem Kameraauge in Rio de Janeiro bewegt hat: Die Tänzerinnen erscheinen in ihren Bewegungen erstarrt. Sie nehmen die Gestalt von Statuen an, die nach Leben schreien. Die Aufbauten und Dekorationen der Wagen wirken hingegen lebendig, als seien sie Fabelwesen, die soeben aus Schlaf gerissen worden sind. Man kann schliesslich nicht mehr sagen, was belebt und was unbelebt ist. Das Auge beginnt zu stammeln und zu stottern.

Die Desorientierung, die Cabot mit den raumzeitlichen Gewohnheiten betreibt, lässt einen Empfindungsblock der Schwerelosigkeit entstehen. Der Betrachter stockt und taumelt als sei er für einen Moment selbst ein erschöpfter Tänzer, der zwischen rhythmischer Trance und Erschöpfung immer wieder in einen Zustand euphorischen Schwindels fällt. Die Voraussetzung dafür ist, dass Cabot stammelnd mit den Videobildern umgeht. Er nimmt sich die aufgenommenen Filme Bild für Bild vor und bewegt jedes einzelne wie einen schwer zu fassenden Fremdkörper vor seinem Auge hin und her. Wenige Einzelbilder halten diesem Prozess stand und die verbleibenden schliesst er dann zu einem Loop zusammen. Der Betrachter spürt, dass sie mit staunenden Blick zusammengefügt worden sind. Das ist ein Blick, der darauf vertraut, dass Zeit zu rauschen und zu strahlen beginnt, wenn Gewohnheiten aus den Angeln gehoben werden.*

Nils Röller

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*Publiziert in englischer und portugiesischer Übersetzung in: Hug, Alfons (ed.): Carnaval. Rio de Janeiro 2004: Goethe-Institut Rio de Janeiro

Rosa Barba: Piratenräume

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Ein Sonnenstrahl auf dem Fussboden weckt für einen Augenblick Vorstellungen von einem schönen Leben. Dann zuckt eine Linie über graue Wände. Sie führt den Blick in verlassene Räume, die blass im Winterlicht dämmern. Ein anderes Linienwesen taucht auf, springt über die Tristesse des unsanierten Altbaus, als wüsste es um verborgene Schätze, die noch in den verlassenen Räumen zu finden sind. Doch die Linienwesen sind keine verlässlichen Führer, sie kommen und gehen, nicht mehr als zufällige Kratzer auf dem Filmträger, die nur durch die Motorik der Projektionsmaschine in Bewegung geraten sind. Sie sind ein Hinweis auf die Verrückung, die zwischen den verschiedenen Räumen der Installation stattfindet: den gefilmten Räumen, dem durch die Filmprojektion erzeugten Illusionsraum und dem begehbaren Raum, in dem die Installation aufgebaut ist.

Die Projektionsmaschine, mit der Rosa Barba Filmaufnahmen von verlassenen Altbauwohnungen in Budapest auf die Wand der Installation „Piratenräume“ wirft, ist umständlich. So umständlich, dass man sich fragt, wie die Bewegungen der Linienwesen sich verhalten zu den Spulen, Rollen, Filmbändern und den Lautsprechern, die gemeinsam die Apparatur der Installation bilden. Die Filmbänder heben und senken sich, die Musik wird manchmal unterbrochen und die Projektionslampe scheint stockend. Auch der Rhythmus, mit der die Projektionsmaschine den Linienwesen Bewegung mitteilt, ist kompliziert. Diese Komplikation löst sich bei weiterem Hinsehen scheinbar auf: Die Rhythmik des Wechsels von Licht und Schatten, von Ton und Stille, von gespannten und lockeren Filmstreifen steht in Beziehung zu einem unscheinbaren Element, auf das vielleicht alles zurückführbar ist. Es ist sinnlich nur über ein kleines Sichtfenster erfahrbar, in dem rote Dioden regelmässig Schriftbalken in Ziffern verwandeln. Das kleine Display, das konstant in Bewegung ist, dient als Hinweis darauf, dass die Rhythmik des Geschehens mit einem digitalen Steuerwerk in Verbindung stehen könnte, das vermutlich den Projektor taktet und den Linienwesen ihren Impuls mitteilt. Veranlasst also ein diskreter mathematischer Plan die Komplikationen? Dient die filmische Anordnung der Illustration der bekannten Aussage, dass digitale Computer auch den Film erobert haben und die Schätze der cineastischen Illusion längst von Programmieren geborgen wurden? Warum wendet Rosa Barba Sorgfalt und technisches Know-How auf, um die Materialität von Projektion und Filmtransport auszustellen, nicht allein in dieser Installation, sondern in allen ihren Arbeiten?

Die Spannung der Piratenräume hat eine Quelle in einem historischen Konflikt über die Bedeutung von Raum und Zahl. Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts hat sich der Raum der Mathematik von der visuellen Anschauung verabschiedet [1]. Der Mathematiker Felix Klein überführt in seinem Erlanger Programm von 1872 die widerstreitenden Raumlehren der Mathematik mit Hilfe der sogenannten Gruppentheorie in eine Zahlenlehre. Das ist strukturell vergleichbar mit der Programmierung filmischer Räume durch den Computer. Insofern ist das digitale Fenster in Barbas Piratenräumen ein Hinweis auf ein Spannungsfeld, das sich innermathematisch entwickelte und das später zum Konzept der Turing-Maschine und des digitalen Rechners führte. Barbas Raumkunst positioniert sich zwischen der modernen Tendenz zur Beherrschung der Räume durch die Zahl (Abstraktion) und dem Bedarf an technisch gestützter Audiovision, denn während sich die Mathematik von sinnlich vorstellbaren Geometrien entfernte, wurden in einer dazu gegenläufigen Tendenz Kulturtechniken wie Schallplatte, Kino und Schreibmaschine entwickelt, die dem wachsenden audiovisuellen Bedarf der Industriegesellschaft entsprachen. So spannen Barbas Arbeiten auch einen Reflexionsbogen zwischen mathematischen Raumprojektionen und den Kulturtechniken der Raumgestaltung.

Foucault erwähnt in seinem Text „Andere Räume“ das Kino nur am Rande [2]. Seine Aufmerksamkeit gilt anderen Lokalitäten, in denen Raumordnungen verändert werden, Spiegeln, Gärten, Friedhöfen, Gefängnissen und Archiven. Er spricht am Schluss des Textes von Schiffen als „schwankenden Raumstücken“. Zwar schwankt der Fussboden in Barbas Installation nicht, wohl aber der Blick und die Aufmerksamkeit. Der Wahrnehmungsraum ist nicht geordnet, sondern kippt von hell nach dunkel oder er wird bedrohlich eng, wenn sich die Filmbänder von der Decke hinunter auf den Betrachter senken. Zugleich wird die zeitliche Wahrnehmung zerstückelt, wenn die Musik einsetzt oder das Licht aussetzt und eine kontinuierliche Wahrnehmung nicht möglich ist. Besonders irritierend ist dabei der Blick auf die digitalen Ziffern. Zwar verändern sie sich regelmässig und suggerieren eine verlässliche Taktung der steuernden Maschine, aber der Betrachter kann sie nicht eindeutig den Aktionen des Filmprojektors zuordnen, den sie vorgeben zu steuern. Das zeigt, dass die Piratenräume reich an Plätzen sind, auf denen fragile raumzeitliche Ordnungen umgeschlagen werden. In diesem Sinn erweitert Barba die Raumlehre Foucaults um den kinematographischen Aspekt. Sie schafft Umschlagplätze für raumzeitliche Ordnungen. Die Linienwesen weisen den Weg dorthin. Sie navigieren zwischen den Diskrepanzen und sind flüchtige Botschafter medialer Möglichkeiten.

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Fotos: Courtesy by Rosa Barba

Der Text “Piratenräume” ist dem Band BARBA, ROSA. off sites / sets entnommen.

2 Tle. Katalog. Düsseldorf 2003. Text von Siegfried Zielinski, Nils Röller u.a.Faltplan im Format 100 x 140 cm Gefaltet auf 16,6 x 25 cm mit Texten von Siegfried Zielinski, Iris Kadel, Jose-Carlo Mariategui & Nils Röller auf der Rückseite / 88 S. durchgehend mit meist farb. Abb.,brosch. in Schuber – Text in dt. & engl. Sprache.

Der aufwendig und schön gestaltete Ausstellungskatalog gliedert sich in zwei Teile: “Sets”, ein schlankes Buch, das Barbas filmtechnische Installationen dokumentiert und “Off Sites” – im Format ausgeklappt auf der einen Seite Text-Karte, auf der anderen Seite Poster.

Zur bestehenden Publikation erscheint neu eine Edition: Die aufklappbare Leuchtbox mit Stromadapter, in Format und Handhabung gleich einer herkömmlichen Videokassette, birgt ein durchscheinendes Print aus dem Film “Spaltenfelder” (2003). Vorzugsausgabe: Auflage: 12 Exemplare + 3 Exemplare a.p. Kassette im Format 19,5 x 12,5 x 3 cm in 1/1 weiß glatt Efalin mit Einsatz für Leuchtdioden mit Adapter und numerietm und signiertem Videoprint in Wechselrahmen. 1115314 EUR 180.00

The beautiful and lavish exhibition catalogue is made up of two parts: Sets, a slim book that documents Barbas filmic installations, and Off Sites that folds out to text on the one side and a poster on the other. To this extant publication comes an added edition: a foldout lightbox with power adaptor, in format and operation comparable to a standard video cassette, that contains a transparent print from the film Spaltenfelder (2003).